Nicht nur sehen, sondern verstehen – Autos lernen denken

Bangalore/Friedrichshafen – Acht Spuren im Kriechgang. Zwischen all den Autos, Bussen und Lastwagen: Hunderte von Mofas, Fahrrädern und Fußgängern. Die Ampeln haben allenfalls empfehlenden Charakter.

Wenn plötzlich noch eine Kuh auf die Fahrbahn trottet, geht gar nichts mehr. Manu Saale schaut von seinem Büro aus auf das Chaos in den Straßen von Bangalore und schüttelt den Kopf. Er leitet das Forschungszentrum von Mercedes in der indischen Software-Metropole und hat eine Herkulesaufgabe: Er soll die Modelle von morgen fit machen fürs autonome Fahren – und zwar auf Straßen, auf denen schon routinierte Autofahrer hoffnungslos überfordert sind.

«Der Verkehr ist zu kompliziert, als dass man ihn in Algorithmen pressen und jedes Szenario vorhersehen kann», sagt der Entwickler. «Sondern wenn wir in solchen Situationen irgendwann einmal autonom fahren wollen, dann muss ein Auto selbst Entscheidungen treffen, statt einer programmierten Routine zu folgen.» Es brauche das, was auch beim Menschen den Unterschied zwischen einem schlechten und einem guten Fahrer ausmacht: Erfahrung.

Die ist in der bisherigen Fahrzeugarchitektur allerdings nicht vorgesehen. Mit Dutzenden Steuergeräten können die Autos zwar rasend schnell rechnen, aber nicht denken, geschweige denn lernen und handeln, sagt Stefan Sommer. Er ist der Vorstandsvorsitzende des Zulieferers ZF und hat sich mit dem Chiphersteller Nvidia zusammengetan, um das zu ändern. «Was das Auto zum autonomen Fahren braucht, ist künstliche Intelligenz», sagt Sommer und nutzt damit ein Schlagwort, das derzeit alle Forscher umtreibt.

Geht es in der bisherigen Arbeitsweise der Fahrzeugelektronik darum, eine Situation möglichst schnell und präzise zu erkennen und dann eine entsprechend programmierte Handlungsanweisung abzurufen, muss ein autonomes Auto das Ergebnis selbst interpretieren, eigene Entscheidungen treffen und selbstständig Strategien entwickeln, erläutert der ZF-Chef. Im Grunde sei das wie bei einem Fahranfänger: «Mit künstlicher Intelligenz sammelt das Auto nicht einfach nur Daten, sondern Erfahrungen und kann ähnliche Situation mit jeder neuen Erfahrung entsprechend besser einschätzen.»

Das Motto lautet trainieren statt programmieren, sagt Nvidia-Chef Jen-Hsun Huang. Statt der Software für jede Situation eine Handlungsanweisung einzuspeichern, setzt das sogenannte Machine Learning oder Deep Learning darauf, dass ein Auto irgendwann selbst erkennt, was ein Hindernis ist und wann man ausweichen kann oder anhalten muss: «Die Software muss Muster erkennen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.»

Noch in diesem Jahrzehnt will der Zulieferer ein Steuergerät mit einem Nvidia-Chip zur Serienreife bringen, das die Sensordaten von Kameras, Radar-, Lidar- oder Ultraschallsensoren des Autos so interpretiert, dass die Software daraus selbstständig lernen kann. «Damit bringen wir die Rechenleistung eines Supercomputers, wie sie für künstliche Intelligenz benötigt wird, auf die Straße und lassen Fahrzeuge nicht nur sehen, sondern denken und handeln.» Doch nicht alle Experten teilen Sommers Optimismus.

Carlos Ghosn, der Chef von Renault und Nissan, zum Beispiel will beim autonomen Fahren nicht allein auf selbstlernende Silizium-Hirne vertrauen und macht deshalb den Menschen wieder zur letzten Instanz: Für autonom fahrende Nissan-Modelle hat er gerade zusammen mit der Raumfahrtbehörde Nasa eine Art «Mission Control» installiert, von der aus sich Experten aus Fleisch und Blut in jeden Wagen einwählen und knifflige Situationen quasi per Fernbedienung auflösen können, erläutert Melissa Cefkin aus dem Forschungszentrum des japanischen Herstellers im Silicon Valley.

Aber auch die Japaner wollen die Software schlau machen und hoffen, dass die menschliche Nachhilfe nicht allzu oft angefordert wird. Vielmehr soll sich auch die Elektronik die Entscheidung der Mission Control merken und in ähnlichen Situationen ähnlich reagieren. Auch Manu Saale weiß, dass es wohl noch einige Jahre dauern wird, bis Autos wie die S-Klasse tatsächlich lernen und einen Erfahrungsschatz aufbauen können, auf dessen Basis sie dann eigene Entscheidungen treffen. Erst recht in dem Chaos auf den Straßen unter seinem Bürofenster. Doch davon lässt er sich seinen Optimismus nicht nehmen. Denn so viel sei sicher: «Wenn er es auf Straßen wir hier in Bangalore schafft, dann kann dann der Autopilot wirklich überall fahren.»


(dpa/tmn)

(dpa)

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